Unternehmenstheater am Spieltisch

Es existieren etliche Varianten von Unternehmenstheater, beginnend bei der dramaturgischen Verarbeitung und Zurschaustellung der Unternehmensverhältnisse in einem Stück, bei dem bisweilen die Arbeitnehmer selbst auf die Bühne gebeten werden, bis hin zur Rollenspielsituation des Fake, bei dem branchentypische Situationen durch Rollentausch simuliert werden.1)Unternehmenstheater: Formen – Erfahrungen – erfolgreicher Einsatz. Hrsg. von Georg Schreyögg und Robert Dabitz. Wiesbaden: Gabler 1999, S. 27: „Wenn hier von Unternehmenstheater gesprochen wird, so ist in erster Linie die szenische Aufbereitung vorgefundener Problemsituationen zu einem Theaterstück gemeint.“ Fähigkeiten, die im Spiel bereits erprobt und ausgebaut werden, können im Unternehmenskontext angewandt werden. Probleme innerhalb der Kommunikationsstruktur der Gruppe oder von einzelnen Mitarbeitern können im Vorfeld aufgedeckt und auf diese Weise Schäden, die aus realen Aktionen resultierten, verhindert werden. Mit der Schulung des Personals wird der Unternehmenswert nachhaltig gesteigert.2)Hans Jürgen Drumm: Personalwirtschaft. Berlin u.a.: Springer 62008, S. 31 und Proff, Heike und Proff, Harald Victor: Dynamisches Automobilmanagement. Strategien für Hersteller und Zulieferer im internationalen Wettbewerb. Wiesbaden: Gabler 2008, S. 83

Alle Unternehmenstheatermethoden bringen jedoch Nachteile mit sich, die sich entweder in geringer Nachhaltigkeit oder hohem Zeitaufwand niederschlagen. Wird den Mitarbeitern (wie in der Mausefalle-Szene in Shakespeares Hamlet) die Unternehmenssituation gespiegelt, hat dies den Vorteil, den beraterischen Einblick von Außen ins Unternehmen zu transportieren und dabei jeden spielerisch zu erreichen. Individuelle Lösungsansätze zu finden ist jedoch jedem Mitarbeiter selbst überlassen, was sich im hektischen Unternehmensalltag einerseits schwer verwirklichen lässt, in Bezug auf die Arbeitsgruppe aufgrund unterschiedlicher Individuen zu unterschiedlichen Ergebnissen führt.

Sollen die Arbeitnehmer gar selbst zu Bühnenakteuren werden, ist bereits die Hemmschwelle, sich ganzkörperlich auf der Bühne zu zeigen, ein ernstes Hindernis. Ohne Schauspielausbildung kann weder die ästhetische Differenz zwischen Realität und Bühne überwunden, noch die gewünschte Kommunikationswirkung erzielt werden. Bereits im Naturalismus Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich gezeigt, dass reale Handwerker keine Handwerker auf der Bühne verkörpern können, da sie sich zu privat verhalten. Hinzu kommt die Benachteiligung körperlich beeinträchtigter Menschen.

Die Besonderheit des Unternehmenstheaters am Spieltisch ist, dass die Akteure zugleich Zuschauer sind. Niemand ist gezwungen, ganzkörperlich zu handeln, da man – wie bei einem klassischen Gesellschaftsspiel – sitzt. Die Beteiligten beschreiben alles, was nicht durch Gestik und Mimik ausgespielt werden kann. Die Teilnehmer/innen gestalten und erschaffen in ihrer selbst gewählten Rolle zusammen eine Geschichte, die sich schlussendlich auf der Bühne ihrer Imagination abspielt. Anstatt wie bei Büchern, Filmen oder im Theater hinnehmen zu müssen, was geschieht, können die Spieler die Handlungen ihrer Figuren aktiv gestalten und damit den Fortgang eines Abenteuers beeinflussen.

Die Lernforschung hat bereits empirisch belegt, dass Spielen im Kindesalter eine unorganisierte Vorform des späteren Lernens darstellt und die jeweilige Kultur konstituiert 3)Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 20. Erg. Aufl. Reinbek: Rowohlt 2006, S. 56f.. In der Entwicklungspsychologie wird die These ergänzt, indem Spielen – egal ob im Kindes- oder Erwachsenenalter – als Form der Lebensbewältigung begriffen wird 4)Rolf Oerter: Psychologie des Spiels. Ein handlungstheoretischer Ansatz. Weinheim und Basel: Beltz 1999 (=Beltz Taschenbuch 46, S. 316) . Jüngere Studien der Neurowissenschaften belegen zudem erstens, dass die Spielerfahrungen aus dem Kindesalter in der Pubertät einen wichtigen Beitrag zur Optimierung der synaptischen Strukturen im Gehirn leisten 5)Manfred Dworschak: Helden auf Bewährung. In: Der Spiegel, 15/2010, S. 124-134. Hrsg. von Rudolf Augstein. Hamburg: Spiegel-Verlag 2010, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-69946947.html und zweitens, dass kein kognitiver Unterschied zwischen im Spiel erbrachten Leistungen und realen Leistungen besteht 6)Dies zeigte ein Team von Wissenschaftlern um Christian Keysers vom Neuroimaging Center der niederländischen Universität Groningen, vgl. Mbemba Jabbi, Jojanneke Bastiaansen und Christian Keysers: A Common Anterior Insula Repre-sentation of Disgust Observation, Experience and Imagination Shows Divergent Functional Connectivity Pathways. In: PLoS ONE. Hrsg. Von Peter Binfield. 3/2008 (=e2939).
https://www.plosone.org/article/info:doi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0002939
 Im Rollenspiel am Tisch sind „Komplexes Denken, Problemlösen, soziale Kognition und Gedächtnis in hohem Ausmaß gefordert“ 7)Vgl. Oerter 1999, S. 316. Hierzu ebnet der Gruppenleiter den Weg: Spielleitung ist ein komplexes Feld, da Spielregeln, Plot, Spielwelt, dramaturgische Prinzipien, Disposition der Spieler, Charaktere und der Gruppe stets berücksichtigt werden müssen. Die Professionalität einer Spielrunde steht und fällt mit der Sachkenntnis der Spielleitung und deren Moderationsfähigkeiten 8)Christian Bubenheim: Theaterhandwerk am Spieltisch. Tischrollenspiel als fächerübergreifendes Bildungserlebnis. In: Ralph Olsen, Gabriela Paule (Hrsg.): Vielfalt im Theater. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2014.

Ein Exkurs

In einem Großraumbüro müssen die beiden Frauen Anna (A) und Beate (B) sowie die beiden Männer Claus (C) und David (D) an der Verwirklichung eines technischen Projekts arbeiten. A ist Informatikerin, B Betriebswirtin, C Ingenieur und D Philosoph.
Der Unternehmensberater E bittet, nach eingehender Besprechung und Erschaffung von Figuren, alle an einen Tisch in einem abgelegenen Büro; das Großraumbüro ist für eine Sitzung zu offen, laut, zu wenig privat.
Die schüchterne A hat sich als Rollenfigur eine Diebin gewählt (ein solches Verhalten hat sie schon immer interessiert) und, wie alle anderen, ihren Wünschen und Bedürfnissen angepasst. Die Regeln, die E kennt, gewährleisten die Schaffung ebenbürtiger Figuren. So wählt B eine Ritterin, C einen zwergischen Medicus und D einen Druiden.
E beginnt zu erzählen, während alle am Tisch sitzen und lauschen. A und D gebannt und voller Neugierde, B und C voller Misstrauen – ob das keine Zeitverschwendung ist?
E blickt den zwergischen Medicus C an: „Es hat den ganzen Tag geregnet und Deine Arztkleidung ist komplett durchnässt. In einiger Entfernung siehst Du ein Gasthaus, dessen Kerzenschein die Pflastersteine der Straße in der Abenddämmerung bescheint. Es heißt entscheiden: Im Wald schlafen oder doch im Gasthaus?“ Er blickt die Diebin A an: „Ein lukrativer Ort, an dem Du bist. Gut, Deine Jahre in der Stadt waren auch spannend, aber hier, unterwegs und unter Menschen, gibt es mehr Herausforderungen und weitaus mehr klingende Geldbeutel.“ A grinst schüchtern, während Ds Blick nun betont skeptisch-irritiert ist. E blickt B an: „Gerade kommst Du in dieses Gasthaus, dessen Aushängeschild einen schwarzen Keiler darstellt. Rauch und Wärme wehen Dir ins Gesicht, es riecht nach Eintopf und Bier. Donner ertönt hinter Dir, der auch“ – E blickt die Diebin A an – „im Gasthaus zu vernehmen ist, obwohl alle laut und durcheinander reden. Du siehst eine prächtig gekleidete Ritterin eintreten; ein ideales Opfer, vor allem, da nur an Deinem Tisch noch ein Platz frei ist.“ Blick zur Ritterin B: „Verdammt! Das Gasthaus ist randvoll – kein Wunder bei dem Wetter. Nun musst Du Dich zu diesen heruntergekommenen Gestalten setzen.“ E blickt zum Druiden D, spricht geheimnisvoll, kratzt sich am Kopf: „Dieses Unwetter ist ungewöhnlich. Wie die Blitze zucken. Die Wolken sich türmen. Und alles konzentriert sich auf’s Wirtshaus ‚Zum Schwarzen Keiler‘.“
C, monoton: „Na schön, bei dem Wetter gehe ich halt ins Gasthaus.“ Nachdem C im Gasthaus Platz genommen hat, hakt D nach: „Alles konzentriert sich auf’s Wirtshaus? Weiß mein Druide etwas darüber?“ E antwortet mit einer Legende: “Dein alter Meister hat Dich gelehrt, dass im Gasthaus ein dunkles Geheimnis schlummert, welches irgendwann eine Gefahr für das gesamte Umland darstellen soll. Deshalb lebt ihr hier, um euren Wald zu beschützen. Leider hat er Dir nie gesagt, worin diese Gefahr besteht.“ D spricht aufgeregt, mit Emphase: „Dann gehe ich auch ins Wirtshaus! Das lasse ich mir nicht bieten, dass etwas mit MEINEM Wald geschieht!“ Er blickt zu den anderen, abwechselnd: „Jahrelang habe ich ihn gepflegt und gehegt. Außerdem leben dort einige Schrate und Nymphen, die meines Schutzes bedürfen!“ Der Ingenieur C rollt mit den Augen. E greift das auf – im Spiel: „Neben Dir, eher unter Dir, hüfthoch, siehst Du einen Zwergen, der heftig mit den Augen rollt.“ B findet offenbar auch Gefallen am Spiel: „Haben der Herr Zwerg offenbar ein Problem?“ E zu D: „Eine Ritterin und ein Zwerg versperren Dir den Weg.“ D: „Entschuldigung, dürfte ich mal vorbei?! Ich will hier etwas essen.“ C steigt ins Spiel ein, brummelt: „Und jetzt noch so ein Waldmann.“ –
Nach kurzem Gespräch begeben sich alle zu Tisch, zwischen Druide und Zwerg entbrennt eine Diskussion über den Sinn der Magie (da der echte Ingenieur als Naturwissenschafler Geisteswissenschaftlern misstraut), die Diebin und Kämpferin diskutieren über den Begriff der Ehre (und thematisieren damit indirekt Nettiquette und Unternehemensethik).

Die Debattierenden werden von einem Elfen abgelenkt, der beim Hereintreten auf der Türschwelle zusammenbricht. In seinen Händen hält er ein Buch in schwarzem Ledereinband. Dann erlöschen die Lichter. Die Diebin nutzt die Gelegenheit, um das Buch trotz Dunkelheit an sich zu nehmen. Die Ritterin zieht ihr Schwert. Der Medicus eilt zum darniederliegenden Elfen. Und der Druide zaubert ein magisches Licht herbei. Schnell bemerkt die frisch zusammengewürfelte Gruppe, dass sie das Geheimnis nur gemeinsam lüften können, weil sich die verschiedenen Fertigkeiten der Charaktere gut ergänzen. Und E weiß: Auf dem langen und abenteuerlichen Weg zum Ziel wird Geschick, Heilkunst, Kriegskunst und Magie benötigt.

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